Friedhof Halterner Straße
Der Friedhof an der Halterner Straße wurde am 4. November 1903 eröffnet, nachdem der Platz für Begräbnismöglichkeiten der protestantischen Bevölkerung auf dem ersten evangelischen Friedhof an der Hohenzollernstraße (existiert heute als solcher nicht mehr) knapp geworden war. Am 23.November 1914 wurde die Friedhofkapelle eingeweiht. Von 1923 bis 1924 erfolgte schon einmal eine vorübergehende Übernahme durch die Stadt Recklinghausen. Die letzte Erweiterung des Friedhofes auf eine Gesamtgröße von 2,73 ha erfolgte 1935.
1956 wurde die Kapelle vergrößert. Im Jahr 1964 erfolgte die endgültige Übergabe an die Stadt. Da Erweiterungsmöglichkeiten nicht bestanden, wurden mit der Übernahme keine neuen Nutzungsrechte mehr vergeben. Beerdigungen sind nur noch auf freien Stellen bereits vergebener Grabstellen möglich. Mit der Abnahme der Beisetzungen und dem Ablauf der bestehenden gesetzlichen Ruhefristen hat sich der Charakter des Friedhofes in den letzten Jahrzehnten immer mehr von der Begräbnisstätte zur Parkanlage gewandelt.
Der Alte Friedhof am Lohtor
Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war das Leben der Recklinghäuser von Geburt bis Tod durch die Zugehörigkeit zur Parochie St. Petrus bestimmt. Es gab den Pfarrzwang, durch welchen die Bürgerinnen und Bürger gehalten waren, in ihrer Pfarrkirche an den Gottesdiensten teilzunehmen, die Sakramente zu empfangen, der Pfarrei ihre rechtmäßigen Abgaben zu leisten und sich auf dem Pfarrfriedhof begraben zu lassen.
Durch ‚Klostersturm und Fürstenrevolution’, d.h. durch die politische, rechtliche und geistige Säkularisation in Westfalen ab 1803 zerfielen diese alten Bindungen. Der baldige Zuzug erster Protestanten in die Stadt Recklinghausen machte den Konnex zwischen den individuellen Lebenswegen und der traditionellen Pfarrzugehörigkeit ohnehin obsolet.
Der Einzug aufklärerisch-moderner, von napoleonisch-französischen Einflüssen geprägter Denkstrukturen in Regierung und Verwaltung der neuen Landesherrschaft (Herzogtum Arenberg, Großherzogtum Berg) führte auch zu einem säkularisierten Umgang mit der Friedhofs- und Begräbniskultur. Beginnend mit einer arenbergischen Verordnung von 1804, die übrigens auf Antrag der Recklinghäuser Bürgerschaft erging, galt nun endgültig die Maxime, die Toten nicht mehr innerhalb des städtischen Mauerringes und einer umfriedeten (pfarr-) kirchlichen Immunität zu bestatten, sondern sie an einem nahen, durch Verkehrsanbindung leicht erreichbaren Ruheort außerhalb des befestigten alten Stadtareals der Erde zu übergeben. Nicht zuletzt stadthygienische Gründe spielten dabei eine Rolle, zumal man – wie überall in Europa - die innerstädtischen Zisternen und Trinkwasserbrunnen nicht länger in unmittelbarer Nachbarschaft zum überfüllten pfarrkirchlichen Totenacker sehen wollte.
Eng damit zusammen hängt die generelle Überwindung des mittelalterlichen Stadtantlitzes mit seinem Burgencharakter und seinen Festungseigenschaften. Frühe Indizien dafür waren auch in Recklinghausen die Nutzlosigkeit und der damit zusammenhängende Zerfall der einst wirkungsvollen Mauer-, Wall- und Wehranlagen um 1800. Diese hatten ihre Funktion als grenzziehendes, sicherheits- und ordnungsstiftendes Element mit dem Ende überkommener Stadtrechte und dem Untergang der alten geistlichen Landesherrschaft weitestgehend eingebüßt. Die Maueranlagen verkamen zu Verkehrshindernissen und Hemmschwellen für die Infrastruktur-Entwicklung; die rechtlichen und verwaltungstechnischen Trennungen zwischen Stadt und Land verwischten zusehends und nahmen der Stadt Recklinghausen ihren privilegierten Charakter - die traditionelle Schutzlosigkeit und Minderwertigkeit des vorstädtischen Geländes waren nun aber kein Planungshindernis für neuartige Geländeerschließungen, Flächennutzungen und Baumaßnahmen mehr.
Die Vorstellung, dass eine räumliche Trennung des Wohnortes der Lebenden von dem der Toten das Gebot der Stunde sei, wurde dadurch erheblich erleichtert. Der neue, kommunale Friedhof am Lohtor platziert sich ab 1809 auf dem zum sog. vestischen Landrücken hin leicht ansteigenden Gelände nördlich der Altstadt. Dieses liegt zwischen den im spitzen Winkel aufeinandertreffenden nord-nordwestlichen Ausfallrouten nach Haltern bzw. nach Dorsten (von befestigten ‚Straßen’ in heutigen Sinne kann man beginnend mit dem preußischen Chausseebau wohl erst ab ca. 1850 sprechen). Der Begräbnisort befindet sich demnach auf einem ehemals klösterlichen, nach 1803 säkularisierten Gartengelände, nahezu vis à vis zum nördlichen Hauptportal der Stadtmauer, eben dem Lohtor. Erst durch diese gezielte ‚Auswanderung’ des städtischen Gräberfeldes in die ehemalige Glacis der Stadtumwallung gewinnt Recklinghausen Anschluss an die bürgerliche Friedhofskultur des 19. Jahrhunderts: Nicht mehr ein beengter, in immer neuen Schichten belegter Gottesacker im Schatten der Petruskirche, sondern eine begrünte, de facto mehrfach erweiterte Friedhofsanlage bildete bis zu ihrer endgültigen Schließung im Jahre 1927 das gestalterische Konzept.
Erschließung und Dokumentation der auf die Gegenwart überkommenen Grabbelegungen des Lohtorfriedhofes ergeben, trotz mancher Zerstörungen, Verluste und Fragmentierungen eine wertvolle biografische Quelle für das Recklinghausen der frühmodernen Zeit. Anders gesprochen: Zwischen den alten Baumbeständen und Wegstrecken erahnt der Betrachter einen Befund an Grabmonumenten, Gruftbelegungen und Einzelgräbern, der als ‚Datenbank’ zur kommunalen Personengeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu deuten ist.
Der Bestand an identifizier- oder rekonstruierbaren Grabbelegungen liest sich wie ein ‚Who is Who’ der bürgerlichen Stadtgeschichte im Industrialisierungszeitalter. Man stößt auf Bürgermeister, Beamte, Geistliche, Ehrenbürger, Industrielle und Gymnasiallehrer, auf Namen wie: Franz Bracht (1809-1853, Bürgermeister 1843-1850), Dr. med. Franz Schneider (1811-1881, westfälischer Demokrat der Revolutionszeit, 1848/49), Franz Hagemann (1819–1900, Bürgermeister 1854-1890), schließlich auch auf Robert Freiherrn von Reitzenstein (1821-1902, preußischer Landrat von 1850 bis 1893). Auch Unternehmer-Persönlichkeiten und prominente Gewerbetreibende haben ihre letzte Ruhestätte am Lohtor gefunden: Adolf Wicking (Tuchfabrikant und Kalkindustrieller, 1808-1877), Franz Limper (Textilfabrikant, 1838-1920), Heinrich Stenkhoff (Ziegelei-Unternehmer, 1802-1876).
Fazit: Der Alte Friedhof am Lohtor stellt ein symbolträchtiges und bedeutsames Denkmal der neuzeitlichen städtischen Topografie und einen markanten Erinnerungsort an der Epochenschwelle zum modernen Recklinghausen dar. Er bewahrt Namen, Personen, Karrieren und Schicksale, welche das politische, geistige und wirtschaftliche Fluidum der Stadtgemeinde im 19. Jahrhundert geprägt haben. Die Anlage übermittelt dem Besucher nicht nur individuelle Toten-Memoria, sondern ein ganzheitliches Stück Stadthistorie.