„Deutscher kauf nicht bei Juden! Wer bei Juden kauft ist ein Volksverräter“. Dieses Spruchband war am 1. April 1933 quer über die Breite Straße im Eingangsbereich zum Altstadtmarkt gespannt. „Wer mit den Juden kämpft, ringt mit dem Teufel“ lautete der Text auf dem mit Karikaturen versehenen Spruchband quer über die Kunibertistraße. Solche Sprüche waren in diesen Tagen in der nationalsozialistischen Presse und in vielen Städten des Reichsgebietes zu lesen. Nach der Machtübernahme, der gewonnenen Reichstagswahl und dem gerade auch in Recklinghausen auf dem Markt zelebrierten „Tag von Potsdam“ holte Hitler mit dem sogenannten Boykott-Tag zum ersten organisierten Schlag gegen das „Judentum“ aus. Nach NS-Lesart diente die Boykottaktion als Abwehr gegen „Greuel- und Hetzpropaganda“, die angeblich das „Weltjudentum“ gegen Nazi-Deutschland lanciert hatte.
Spruchband am Eingang zum Altstadtmarkt (StA Recklinghausen)
Konkret richtete sich die Aktion vor allem gegen tatsächliche oder vermeintliche jüdische Geschäfte und Kaufhäuser, vor die oftmals SA-Männer postiert waren, um potentielle Kunden am Einkauf zu hindern. Jüdische Geschäfte wurden durch Spruchbänder und Plakate kenntlich gemacht. Bernd Sandmann (Jg. 1920): „ Die NSDAP zwang die jüdischen Geschäftsinhaber, in ihre eigenen Schaufenster Plakate mit der Aufschrift zu hängen: Der Deutsche kauft nicht beim Juden!. In einem jüdischen Lebensmittelgeschäft hing ein Schild: Wer vom Juden frißt, stirbt daran.“
Unter zunehmenden Druck geriet unter anderen die Karstadt AG, die als jüdischer Konzern eingestuft wurde. Bereits am 21. März 1933, als anläßlich des „Tages von Potsdam“, die Stadt mit „nationalen“ Flaggen des Kaiserreichs und der Hakenkreuzfahne geschmückt wurde, hatte die NSDAP - so die National-Zeitung am 22.3.33 - „den Reigen der zahlreichen Veranstaltungen anläßlich der nationalen und sozialistischen Revolution in der Frühe zunächst mit der Entfernung von drei Schwarz-Weiß-Roten Fahnen von Althoffs Warenhaus eröffnet. Die `Auserwählten`des Volkes glaubten, diesen deutschen Nationalfeiertag auch für sich in Anspruch nehmen zu müssen […].“
Die Anti-Warenhaus-Agitation der NSDAP, die sowieso Bestandteil ihres Wahlkampfs um die Gunst der sich im Konkurrenzkampf bedrohten Einzelhändler war, war von der Partei geschickt mit antisemitischer Propaganda verbunden worden. Als die Kampagne zunahm, reagierte der Konzern mit reichsweit geschalteten Anzeigen (so auch: RZ 3.4.1933), in denen er die Entlassung aller Juden aus Vorstand, Aufsichtsrat und Führungspositionen in den Filialen ankündigte. Eine Zeitzeugin (Jg. 1910) erinnerte sich: „Später wechselte ich zur Firma Althoff, die 1930 ihr neues Gebäude am Markt eröffnet hatte. In dieser Firma arbeiteten viele jüdische Abteilungsleiter. In der Teppich- und Gardinenabteilung z.B. arbeitete der schwer kriegsverletzte Herr Blumenthal, der im Ersten Weltkrieg ein Auge verloren und einen Kniedurchschuss erhalten hatte. Im Zuge der Boykottaktion im April 1933 wurden er und die anderen jüdischen Angestellten entlassen. Er war so betroffen, daß er einen regelrechten Ohnmachtsanfall erlitt und zusammenbrach.“
National-Zeitung, 28. März 1933
Walter Kurt Schönholz (Jg. 1923), Sohn einer angesehenen jüdischen Medizinerfamilie, erlebte den Boykott-Tag als Zehnjähriger. Großvater Sanitätsrat Schönholz und Vater hatten angesichts der Agitation in den Tagen zuvor die Stadt auf Anraten christlicher Freunde „zur Erholung“ für ein paar Tage verlassen. In der Innenstadt sah er SA-Posten vor dem Textilkaufhaus Alsberg an der Breite Straße und vor anderen Geschäften mit Schildern, „manche mit sehr gemeinem Wortlaut“. Auch vor der Praxis an der Martinistr. 30a zogen zwei SA-Männer mit Plakaten auf: „Geht nicht zu jüdischen Ärzten“: „Dort war die Haushälterin meines Großvaters, Josefa Bobbert, eine treue christliche Pommeranerin, die seit 1899 die großelterliche Hauswirtschaft führte und uns nicht verließ, bis wir 1937 auswanderten, gerade dabei, den SA-Leuten die Leviten zu lesen wegen der Unverschämtheit , die sie durch ihre Verhalten einem ehrwürdigen Arzt gegenüber an den Tag legten. Kurz nachdem ich kam, gingen die zwei Posten dann mit ihren Schildern weg und kamen nicht zurück.“ Walter Schönholz musste aber auch am Spätnachmittag als Augenzeuge die Misshandlung des Möbelkaufmanns Erich Königsbruch, Springstr. 4a miterleben: „Als ich zum Küchenbalkon ging, sah ich, wie ein jüdischer Kaufmann, der hinter uns wohnte, von SA-Leuten trotz des Flehens seiner Frau und Tochter durch die Einfahrt gezerrt und an der Post auf einen Lastwagen geladen wurde. Vom Vorderzimmer konnte ich das Banner lesen, das auf dem Lastwagen montiert war: `Jude, du hast Land und Leute …`. Niemand kam dem Mann zu Hilfe, auch ich nicht. Ich empfinde noch heute die Machtlosigkeit, welche ich da fühlte.“
National-Zeitung, 1. April 1933
Die Boykott-Aktion wurde nach offizieller Lesart wegen des Erfolgs „für einige Tage ausgesetzt“, bildete tatsächlich aber nur den Auftakt zur systematischen Verdrängung jüdischer Bürger aus kaufmännischen Berufen. „Das Komitee gegen Lügenabwehr. Ortsgruppe Recklinghausen-Mitte“ veröffentlichte, „damit keine Irrtümer“ entstehen, am 3. April 1933 in der RZ eine Liste jüdischer Geschäften und Praxen, nicht ohne die speziellen Hinweise für Hausfrauen, dass auch das Bohnerwachs „Westfalengold“ trotz seines Namens einer jüdischen Fabrik entstamme und für Gastwirte, dass sie den Tabakgroßhandel Adolf Aron zu boykottieren hätten. In den nächsten Tagen enthüllte die NZ-Ausgabe 10.04.1933 die „Tarnung“ Kurt Zahlers, „eines galizischen Juden“, dessen Geschäft unter dem Namen „Möbel deutscher Werkstätten“ firmiere. Beamte wurden aufgefordert, jüdische Geschäfte zu meiden und die Fotos heimlich aufgenommener Kundinnen und Kunden wurden in den Agitationskästen der antisemitischen Wochenschrift „Der Stürmer“ im Stadtgebiet ausgehängt. Frau Reuter, Börster Weg berichtete ihrer Nachbarin Martha Eichmann aufgeregt, sie sei beim Besuch des Miedergeschäfts Gottlieb fotographiert worden. Daraufhin habe ihr Mann - städtischer Beamter - eine Ankündigung erhalten, im Wiederholungsfall gekündigt zu werden.
Dem Existenzdruck waren viele Geschäftsinhaber nicht mehr gewachsen. Insofern war die Anzeige eines Besitzerwechsels für das ehemalige Schuhgeschäft Edox Breite Straße/Ecke Löhrhofgasse zeittypisch: „Ein neuer Namen für gute Schuhwaren“ präsentierte sich das neue, nun „rein arische“ Schuhhaus Köller (RZ 31.10.1935).
(Georg Möllers)